Wie „nachhaltig“ werden wir in Zukunft reisen?

nachhaltiger Tourismus_we love travel
In Berlin diskutieren Reiseprofis darüber, wie der Tourismus die Corona-Pandemie übersteht. Geht es ihnen nur um die Sicherung von Geschäftsmodellen – oder findet in der Reisebranche ein ernsthaftes Umdenken statt?
Ich sitze zuhause in Quarantäne – und mache zugleich eine Reise. Am Bildschirm meines Laptops: Menschen in Anzügen, die sich auf einem Podium verteilen. Sie unterhalten sich über den pandemie-bedingt eingeschränkten Flugverkehr. Draußen, vor meinem Fenster: eine menschenleere Herbstlandschaft aus Wiesen und Wäldern. Ein Starenschwarm zieht über die Krone eines knorrigen Birnbaums hinweg. Von hinten sehen die Vögel aus wie winzige Flugzeuge.

Mein Wohnort ist der erste österreichische Ort, der im Herbst 2020 unter Quarantäne steht. Wenn ich das Fenster öffne, höre ich die Nachbarn über die erneuten Maßnahmen der Regierung schimpfen. Der Blick über den Laptop aus dem Fenster fällt auf ein Bergmassiv. In den vergangenen Tagen hat es geregnet, auf den Gipfeln liegt Schnee, verhüllt von einer dichten Nebeldecke. Oben, im Gebirge, verläuft die Grenze zu Bayern. Mehr als 700 Kilometer weiter nördlich: Berlin. Dort sitzen die Podiumsmenschen in ihren Anzügen und Pullovern. Die schicken Reiseanalyst*innen, Hotelmanager*innen, Reisekonzern-Vertreter*innen und Startup-Gründer*innen im Computer wirken vor der nebelgrauen Naturkulisse wie Darsteller*innen einer Theateraufführung, sprechende Puppen in einem grell beleuchteten, digitalen Puppenhaus.

Die weltweit größte Reisemesse: nur online

In Berlin trifft sich normalerweise die ganze Welt: Jedes Jahr im März kommen alle, die irgendetwas mit Reisen und Tourismus zu tun haben, zur ITB (Internationale Tourismus-Börse). Die ITB ist die weltweit größte Reisemesse. Aufgrund der Corona-Pandemie wurde die Mega-Veranstaltung heuer verschoben und findet jetzt, im Oktober 2020, online statt. Was üblicherweise ein internationales, nervenaufreibendes Verkaufs- und Netzwerkevent ist, wird im „Corona-Jahr“ zur Diskussionsplattform mit Live-Übertragung. Das Motto: „We love travel“.

Den Podiumsdiskussionen sind via Internet weitere Touristiker*innen aus Städten wie zum Beispiel New York zugeschaltet. Im Chat kommentieren Zuseher*innen aus aller Welt die Gesprächsrunden – von Madrid, über Simbabwe und Bangladesch bis Österreich und Deutschland. Alles dreht sich um Fragen wie: Wie können wir trotz Corona reisen? Wie werden wir in Zukunft reisen? Wie gelingt „nachhaltigeres“ Reisen? Und, vor allem: Wie können wir künftig sicher reisen?

Tourismusindustrie kämpft gegen Corona an

Die Expert*innen sagen Dinge, die eloquente Menschen in Anzügen und Wollpullovern eben sagen: Der Schock über den Stillstand der Welt ist groß. Die neue Situation ist aber auch eine Chance. Man muss umdenken. Man muss neue Geschäftsmodelle finden. Man muss veränderte Kundenbedürfnisse besser verstehen. Reisen muss sicher sein. Reisen braucht mehr digitale Services. Reisen schafft Arbeitsplätze und sichert Einkommen. Reisen muss auch trotz Corona möglich sein!

Das alles klingt nach Krieg, nach Kampf. Ein Kardinalfehler: Wir Menschen sehen das Corona-Virus als etwas, gegen das es zu kämpfen gilt. Wir wollen jenes fragile und unfaire System, das unseren weltzerstörerischen Lebensstil hervorgebracht hat, mit den Mitteln desselben Systems wieder reparieren. Wir bezeichnen uns als „weltoffene Reisende“ und doch schrumpft unser Horizont, wenn es um Lösungen für die Heilung der Welt geht. Beim Kämpfen sind wir in Abwehrhaltung – das strengt uns an und verhindert, dass sich in unserem Inneren etwas in Bewegung setzt.

Es wird ein Kampf gegen Windmühlen sein, wenn die Reiseindustrie kurzfristig denkt und handelt. Wenn noch mehr Technik, noch mehr Digitalisierung, noch mehr Desinfizierung, noch mehr schein-nachhaltige oder soziale Lösungen propagiert werden, um das touristische Rad möglichst bald wieder zum Laufen – und Überlaufen – zu bringen. Der Weltkörper krankt, die Weltpsyche krankt. Das Virus wird nicht von heute auf morgen verschwinden und es können jederzeit weitere Pandemien auftreten. Wenn Körper oder Psyche leiden, hilft es nicht, reine Symptombekämpfung zu betreiben. Es geht darum, die Ursachen herauszufinden. Je mehr Widerstand wir leisten, desto erschöpfter werden wir sein. So wie die Umwelt erschöpft ist, weil sie sich gegen das, was wir ihr fortlaufend antun, zur Wehr setzen muss.

Ein Vorschlag: vom Virus lernen

Was ist die Alternative? Anstatt gegen das Virus in den Kampf zu ziehen, können wir es bis zu seinem Ursprung verfolgen und uns fragen: Was hat das alles eigentlich mit unserer Lebensweise zu tun? Mit unserem Konsumverhalten? Mit der Globalisierung und unserer Art, zu essen, mobil zu sein und Ressourcen für uns zu beanspruchen? Zu den direkten Treibern von Infektionskrankheiten gehören dem WWF zufolge unter anderem die massive Entwaldung, die intensive Landwirtschaft und Tierproduktion, illegaler Wildtierhandel sowie der Klimawandel. Große Themen, von denen sich die internationale Reiseindustrie nicht ganz abkoppeln kann. Das Risiko für Epidemien hänge davon ab, wie Menschen mit Tieren und Ökosystemen umgehen, berichtet auch die FURCHE. Was will uns das Virus also sagen und was können wir – in Bezug auf das Sehnsuchtsthema Reisen – von ihm lernen?

Erst wenn wir die aktuelle Situation dankbar als Lehrmeisterin annehmen und nicht als Gegnerin, werden wir tiefgreifende Veränderungen in Gang setzen können. In diesem Prozess würden womöglich Fragen auftauchen wie: Woher kommt diese große Sehnsucht, die Ferne zu bereisen? Was tun wir der Welt an, indem wir sie zer-reisen? Wer gibt uns das Recht dazu? Wie können wir die jetzige Situation nutzen, um wieder näher bei uns selbst anzukommen, bevor wir neue Reiseziele ansteuern? Wer hat uns eingeredet, uns nach einer „Normalität“ zurückzusehnen, die keinen einzigen Tag lang „normal“ war? Dürfen, können und sollen wir künftig überhaupt noch reisen und wenn ja, wie?

Ansätze für einen verträglichen Tourismus

In den vielen Stunden Diskussionsmaterial finden sich dann doch Ansätze, die über die reine Erhaltung von touristischen Geschäftsmodellen mit Greenwashing-Faktor hinausgehen. In einer Debatte rund um soziale und ökologische Nachhaltigkeit im Tourismus fordert Tourismusforscher Harald Pechlaner von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt etwa: „Wir müssen die Kultur eines Ortes viel mehr entwickeln und zuerst auf die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung schauen.“ Erst wenn das gelinge, könne man neue touristische Erfahrungen kreieren. Es brauche eine „neue Glaubwürdigkeit und Kohärenz“ zwischen jenen, die im Tourismus arbeiten und jenen, die diese Orte touristisch nutzen.

Auch Petra Thomas vom „forum anders reisen e.V.“ ist davon überzeugt, dass Menschen „nicht mehr nur aus Spaß reisen, sondern vor Ort etwas Positives bewirken“ sollen. „Wir müssen uns darauf konzentrieren, wie jede Reise etwas zur nachhaltigen Entwicklung einer Destination beitragen kann.“ Martina von Münchhausen vom Tourismusprogramm des WWF bringt ein, dass Tourismus durchaus zur Erhaltung von Naturschutzgebieten beitragen könne. Sie schlägt vor, sich vor jedem Urlaub zu fragen: Was kann meine Reise bewirken?

Einfach weniger reisen – ein No-go?

Was in der gesamten Diskussion weitgehend fehlt ist die unter Touristiker*innen höchst verpönte Frage: Wäre es nicht angebracht, allen Maßnahmen voran einfach viel weniger zu reisen? Ein No-Go in der Debatte – immerhin verdienen die meisten Menschen auf dem Podium mit dem Tourismus ihr Geld. Eine Bäcker*in ja auch nicht sagen: Bitte, liebe Konsumierende, kaufen Sie weniger Brot! Die Argumente sind immer dieselben: In manchen Ländern seien ganze Familien allein vom Tourismus abhängig. Oder: In vielen Destinationen gäbe es in Krisenzeiten keine staatlichen Hilfen. Auch von Seiten des WWF wird betont, dass Tourismus sowohl Arbeitsplätze schaffen als auch Naturschätze schützen kann. Mittlerweile bietet die Umweltschutzorganisation gemeinsam mit einem Reiseveranstalter selbst Reisen in WWF-Projektgebiete an.

Die ökologischste Reise ist die, …

Inwiefern ist Reisen aber „nachhaltig“, wenn dafür in den Flieger gestiegen wird? Wenn das Reisen eine maßlose Völlerei bleiben darf, aber ein grünes Mascherl bekommt? Wenn zwar hie und da soziale Projekte unterstützt oder Flugkompensationen geleistet werden, aber kein Umdenken von innen heraus stattfindet? Vielleicht hilft hier ein Vergleich mit dem Modekonsum. Wer sich damit bereits bewusst beschäftigt hat, der weiß mittlerweile: Das fairste und nachhaltigste Kleidungsstück ist jenes, das ich erst gar nicht kaufe. Das heißt: Zuerst reduzieren, alte Sachen tragen und erst dann – wenn wirklich nötig – im Idealfall zu Second Hand Kleidung oder Fair Trade Mode greifen. Auf das Reisen umgelegt würde das heißen: Die ökologischste Reise ist die, die nicht angetreten wird. Und wenn doch, dann eben so, dass Umwelt und Menschen vor Ort davon profitieren. (Maria Kapeller, 20.10.2020)

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6 Kommentare

  • Servus Maria!

    Wow – welch’ genialer Artikel! Das mit Abstand beste, was ich in den letzten Monaten zu diesem Thema gelesen habe!

    Vielen Dank dafür!

    Have fun
    Horst

    P.S.: in einem in Kürze erscheinenden Artikel (Buchrezension zum Thema nachhaltig reisen) werde ich diesen Artikel sehr gerne als “Lektüre zum Nachdenken” verlinken!

  • Sehr gern gelesen, ich stimme dir total zu. Hab kürzlich einen Artikel mit ähnlichem Tenor auf meinem Blog veröffentlicht, da werde ich diesen Beitrag sehr gern verlinken 🙂

    Viele Grüße
    Jenny

    • Hallo Jenny,

      vielen Dank – auch für die Verlinkung.

      Zu deinen Texten über “Nachhaltigkeit” beim Reisen: Wir sollten darüber hinausgehen, einfach weiter wie bisher zu fliegen (oder im geringen Ausmaß weniger) und die Flüge zu kompensieren. So eine Kompensation steht ja im Verhältnis nicht zu den Schäden, die durch den Flug tatsächlich angerichtet wurden. “Kompensieren ist erst die drittbeste Lösung”, schreibt zum Beispiel DIE ZEIT (https://www.zeit.de/die-antwort/2019-06/co2-kompensation-klimabilanz-fluege-faq#ist-kompensieren-sinnvoll). Auf dieses Thema gehst du ja in einem deiner Blogartikel ein, schreibst aber gleichzeitig, wie schwer der “Verzicht” ist. Genau hier könnten wir psychologisch anknüpfen. Und: Auch kleine Maßnahmen wie benzinschonend Auto zu fahren tragen etwas zum Umweltschutz bei, da hast du Recht. Aber es bleiben eben kleine Maßnahmen. Da besteht die Gefahr, dass wir dadurch unser Gewissen reinwaschen und erst recht weitermachen wie bisher.

      Liebe Grüße, Maria

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