Die Sehnsucht nach dem Meer

Sehnsuchtsort Meer
Verheißungsvoll: Wenn Wasser und Horizont sich Blau in Blau vereinen.
Warum wollen wir unbedingt ans Meer? Und: Dürfen wir überhaupt davon träumen, während andere darin ertrinken? Ein Interview mit dem Philosophen Peter Vollbrecht.
Dieses Interview hat eine Vorgeschichte. Sie beginnt im Corona-Sommer 2020. Zahlreiche Ländergrenzen sind dicht, Flüge gestrichen. Die Sehnsucht nach dem Meer ist bei vielen Menschen offenbar noch größer als in den Jahren zuvor.

Für ein Online-Reisemagazin wie kofferpacken.at liegt es nahe, jetzt einen Philosophen zu befragen: Was macht das Meer mit uns, dass wir uns von ihm wie magisch angezogen fühlen?

Langsam zieht der Herbst ins Land. Und Europa hält kurz den Atem an: Das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos brennt. 13.000 Menschen haben kein Obdach mehr, nicht einmal ein provisorisches.

Dann kommt der Tag des Interviews. Am anderen Ende der Leitung: der Philosph Peter Vollbrecht. Ist es moralisch verwerflich, gerade jetzt vom Sehnsuchtsort Meer zu träumen, während derselbe Ort für andere wieder einmal zum Verhängnis wird?

Was aus dem Gespräch geworden ist: Der Versuch, zusammenzubringen, was zusammengehört.

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kofferpacken.at: Vom rauschenden Atlantik bis zum kraftvollen Pazifik mit seiner exotischen Südsee: Warum wollen wir unbedingt ans Meer?

Peter Vollbrecht: Es ist vielleicht zunächst das Wasser als Ursprung und Element des Lebens, dass uns so untergründig anspricht, ohne dass wir es irgendwie verbalisieren. Möglicherweise tragen wir eine archaische Unterströmung in uns, die uns das Meer aufsuchen lässt. Das Meer ermöglicht uns auch das Erlebnis von Unendlichkeit. Am Ufer zu stehen, an der Grenze von Land und Wasser, und hinauszuschauen in die Unendlichkeit, scheint eine Ursehnsucht des Menschen zu sein, über seine eigene Endlichkeit hinausschauen zu wollen.

Das ist für mich das zentrale Thema am Meer: die spirituelle Begegnung mit dem unendlichen Horizont. Deshalb, weil unsere Horizonte im Normalleben ja begrenzt sind, nicht nur optisch durch Häuser, Berge und Landschaften, sondern auch durch unsere Aufgaben, Rollen, Pflichten und dergleichen mehr. Am Meer ist plötzlich alles weit und wir stehen gleichsam auf einer anderen Bühne. Das Meer ist eine prächtige Inszenierung genau dieser Bühne.

kofferpacken.at: Warum tut das Baden im Meer der Seele gut?

Peter Vollbrecht: Es hat etwas ganz Besonderes an sich, da das Meer nicht unbewegt, sondern ein natürliches Element ist. Anders als im See spürt man die Strömung, nimmt die Brandung wahr. Man schwimmt hinaus, aber nicht zu weit. Denn da ist dieses Lustmoment von Gefahr, der man sich bewusst ist; der man sich nicht zu weit aussetzen, aber mit ihr spielen will.

Hinzu kommt das Erlebnis des Elements Wasser: Man ist schwerelos, kann sich leicht bewegen, man hat keine Last des Körpers zu tragen. Und das Gefühl kommt hoch, dass man irgendwie noch mal viel jünger sei. Vielleicht hat das auch mit dem Ursprung unseres Daseins zu tun, im Uterus waren wir ja auch von Wasser umgeben.

Sehnsuchtsort Meer

Sehnsuchtsort Meer

Sehnsuchtsort Meer

kofferpacken.at: Wieso wirkt ein simpler Strandspaziergang so reinigend und berauschend auf uns?

Peter Vollbrecht: Er lässt uns Selbstvergessenheit erleben. Man geht und geht und weiß am Ende gar nicht, wie lange man unterwegs gewesen ist. Man vergisst die Zeit, man vergisst vielleicht sich selbst. Womöglich auch deswegen, weil uns dieses immergleiche Wellenspiel mit seinen Geräuschen in eine ganz andere existenzielle Lage bringt. Wir werden ein bisschen von der Last unserer eigenen Existenz, unseres Lebens befreit. Somit hat der Strandspaziergang ein Element der Befreiung. Aber nicht im politischen, sondern im existenziellen Sinne: die Befreiung von der Last des Daseins, von den Sorgen, dem Alltag.

kofferpacken.at: Ähnlich wie beim Meditieren – man zieht sich aus dem Alltag zurück und tritt in eine andere Bewusstseinslage ein?

Peter Vollbrecht: Ich würde es zumindest vergleichen. Die Bedingungen sind etwas anders. Beim Strandspaziergang ist es ja der gleichförmige Gang, man schreitet durch Räume, die eigentlich immer gleichbleiben. Es verändert sich wenig, wenn man am Strand spazieren geht. Man bewegt sich, aber man bewegt sich nirgendwo wirklich hin. Es ist ein Gehen ohne Ziel. Da liegt der Wert im Gehen selbst und nicht darin, dass man irgendwo ankommen möchte. Das ist das Erleben reiner Präsenz und das ist vielleicht wirklich die Gemeinsamkeit mit der Meditation.

Sehnsuchtsort Meer

Sehnsuchtsort Meer

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kofferpacken.at: Die zivilisierten Plätze des Meers sind die Häfen, sagen Sie. Welche Faszination geht von ihnen aus?

Peter Vollbrecht: Auf Schiffsreisen und Häfen ist das Erlebnis von Ankünften und Abschieden besonders stark. Das findet sich zusammen mit einer Metapher, die ich ganz gern präge, nämlich dass das Leben überhaupt eine Reise sei. Dass wir unterwegs in der Welt sind hat etwas mit unserer Anthropologie zu tun. Wir müssen eben unseren Ort in der Welt finden. Von daher liegt das Unterwegssein, dieses Nomadische, irgendwo ganz tief in unserer DNA. Das erleben wir vielleicht auf Häfen ganz besonders. Sie erinnern an die große Zeit der Schiffsreisen, die Atlantiküberquerungen. Ein bisschen geht damit auch einher, dass man sich in einen kulturellen Faden hineinfantasiert.

kofferpacken.at: Das Meer ist für uns also Sehnsuchtsort. Für andere ist es zu einer schwer überwindbaren Grenze, einer Todeszone geworden. Wie passt das zusammen?

Peter Vollbrecht: Das Meer war immer auch schon eine Kommunikationsstraße. Vor allem jene Länder, die am Meer gelegen sind, konnten sich früh am Welthandel beteiligen und sind prosperiert. Einerseits hat das Meer die Menschen über die Entfernung hinweg schon immer zusammengebracht. Aber es war auch stets gefährlich, über das Meer zu fahren. Es ist immer beides. Auch Begegnungen sind in irgendeiner Weise ja immer auch gefährlich.

Sehnsuchtsort Meer

Sehnsuchtsort Meer

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kofferpacken.at: Dürfen wir uns unseren wohlstandsverwöhnten Gedanken und Südseeträumen überhaupt hingeben, während andere im Meer ums Überleben kämpfen?

Peter Vollbrecht: Das Meer bedeutet für viele zunächst einfach nur die Möglichkeit, eine Barriere zu überwinden. Ja, das ist gefährlich! Aber ich würde das eine nicht mit dem anderen vermengen. Die Dramatik der Flüchtlingsströme soll uns nicht verbieten, vom Meer als Sehnsuchtsort zu träumen. Wir leben einfach in verschiedenen Lebenswelten und sollten auf jeden Fall das Schicksal dieser Menschen im Blick haben. Wir haben über all die Jahre zu schnell weggeschaut, wie wir eben bei vielem wegschauen.

kofferpacken.at: Und warum schauen wir weg?

Peter Vollbrecht: Das Wegschauen ist eine Degenerationserscheinung unserer Kultur, die wir wahrscheinlich aufgrund der Überkomplexität der Welt und des Lebens einüben. Sie ist schwer zu bewältigen, deshalb brauchen wir eine Strategie der psychischen Stabilisierung. Diese hat aber auch ein hässliches Gesicht, nämlich dass wir damit auch Hilfe verweigern. Aber ich glaube nicht, dass das etwas mit dem Sehnsuchtsort Meer zu tun hat. Ich denke nicht, dass wir uns das deswegen verbieten müssen. Aber ich verstehe: Sie wollen in diesem Interview jetzt nicht auch noch in diese Kultur des Wegschauens eintauchen. Es soll vermerkt werden.

kofferpacken.at: Es gibt ja immerhin beide Welten. Das Meer ist nicht nur Sehnsuchtsort, sondern auch Gefahr. Ganz allgemein und spezifisch, wenn Menschen es als Fluchtweg benutzen.

Peter Vollbrecht: Zur richtigen Kollision käme es, wenn wir als „Urlauber“ auf „Flüchtende“ treffen würden. Ich leite ja philosophische Reisen und habe auch philosophische Segeltörns veranstaltet. In der Gegend rund um Sizilien, aber auch in der griechischen Ägäis kam genau dieses Thema auf: Was ist, wenn jetzt ein Boot mit Geflüchteten auftaucht? Das kann ja passieren. Die Folge wären riesige Probleme, vor allem für den Kapitän des Schiffes. Wenn er Flüchtende aufnimmt, wozu er seerechtlich verpflichtet ist, kommt er in große Schwierigkeiten mit seiner Reederei. Das ist ein unlösbarer Konflikt: Einerseits besteht die Verpflichtung zu helfen, andererseits sind auch wirtschaftliche Interessen vorhanden.

kofferpacken.at: Wie soll ein Kapitän das lösen?

Peter Vollbrecht: Er kann es im Grunde nur über sein Gewissen lösen. Wenn man als Passagier in so eine Situation kommt und der Kapitän entscheidet sich, weiterzufahren, ist das natürlich für alle eine moralische Katastrophe. Aber was passiert, wenn die Geflüchteten mit an Bord genommen werden und keine Genehmigung erteilt wird, einen Hafen anzusteuern? Auch das muss der Kapitän ausbaden. Der Passagier hat es einfacher. Er befindet sich auf der Sonnenseite des Meereslebens.

Sehnsuchtsort Meer

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kofferpacken.at: Ist es wirklich so einfach: Weil ich im Urlaub bin und somit auf der Sonnenseite des Lebens, geht mich das alles nichts an?

Peter Vollbrecht: Die Sonnenseite ist eine Urlaubs- und Ferienseite. Man führt im Grunde genommen ein anderes Leben – und plötzlich bricht der Weltrhythmus in dieses Leben ein, stört einen und man hat sich mit diesem Prinzip zu beschäftigen. Das Unvorhersehbare ist immer da, es kann auch in einen Ferientag hineinbrechen. Das muss ja nicht nur mit der Flüchtlingsdramatik zu tun haben, sondern kann auch passieren, wenn ein Kind bei einem Unfall ertrinkt. Das Meer hat schon auch das permanent Gefährliche, das kann man nicht verniedlichen.

kofferpacken.at: Wir könnten damit aufhören, immer nur die Sonnen- oder Schattenseiten einer Sache in unserer Wahrnehmung Platz einzuräumen. Wir könnten beide Pole geistig näher aneinander bringen. Würde das unser Gehirn trainieren, weniger einseitig zu denken, sondern ganzheitlicher?

Peter Vollbrecht: Ja, auf jeden Fall. Ich glaube, dass die Kultur des Wegschauens sowohl die persönliche als auch die gesellschaftliche Psyche sehr schwer beschädigt. Es kann nicht der Weg sein, dass wir gleichsam Wirklichkeiten ausblenden.

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Philosoph Peter VollbrechtDer Philosoph und Autor Dr. Peter Vollbrecht lebt in Esslingen bei Stuttgart. Nach vielen Jahren als Lehrender gründete er das „Philosophische Forum Esslingen“. Er organisiert philosophische Cafés in Deutschland sowie philosophische Reisen, unter anderem in Kooperation mit „ZEIT Reisen“.

(Foto: Peter Krumme)

 

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