Die Zeit ist überreif für die Reise zu uns selbst. Gedanken aus dem Wald.

Gedanken aus dem Wald zur Corona-Krise
Zerstörter Wald, zerstörte Welt
Wir haben verdrängt, was uns ausmacht, wer wir sind und wer wir sein wollen. Nutzen wir die Distanz zur Rasanz des Lebens für die Annäherung an uns selbst.

Dieser Wald. Dieser Wald, durch den ich mein ganzes Leben lang spaziert bin, ist kahl. Seit ich denken kann, reihten sich Fichten eng aneinander, im Sommer flossen zarte Lichtstreifen durch das grüne Dickicht, das, wenn man es betrat, eine dunkle, kühle, geheimnisvolle Anderswelt offenbarte. Eine Welt aus weichem Waldboden, herabgefallenen Fichtennadeln und Schwammerln mit grauen und weißen Hütchen. Eine Welt, in der man sich unbeobachtet fühlte, eine Welt zum Verschnaufen und Verstecken.

Dieser Wald. Längst ist er kahl. Abgeschoren, abrasiert, abtransportiert. Die Bäume ragen nicht mehr in den Himmel, die Baumstümpfe reichen nur mehr eine Armlänge hoch über den Boden. Das Emporstreckende, das Stachelige, das Windumtoste ist zu einer Schar von hölzernen Glatzköpfen geworden. Keine Anderswelt mehr, kein Schutz, kein Zufluchtsort. Dieser Wald. Diese Welt. Die Dinge ändern sich. Zerstörung hat sich breit gemacht. Es scheint, als wäre das ganz plötzlich geschehen. Schleichend ist es vor sich gegangen. Vorhersehbar. Unaufhaltsam.

Die Normalität, ein Konstrukt

Was tun, wenn eine Ordnung aus den Fugen gerät? Den alten Wald, die alte Welt betrauern? Einen Schuldigen oder eine Schuldige suchen? Dafür reicht ein kurzer Blick in den kollektiven Spiegel. Alles tun, damit es wieder so wird, wie es einmal war? Damit endlich wieder „Normalität“ einkehrt? Gewiss nicht. Ein Schrei nach Hilfe wird nicht grundlos hinausposaunt, er kommt aus der Tiefe der Kehle. Es ist ein Zeichen, dass Veränderung gelebt werden muss, dass das Alte so nicht mehr funktioniert, vielleicht niemals funktioniert hat. Dass die vermeintliche Normalität ein Konstrukt war, eine grelle Blendung.

Der Wald, die Welt. Orte der Monokulturen, die in sich nur so lange bestehen, bis von außen etwas in sie eindringt, das ihre Schwäche, ihre geheuchelte Stabilität auffliegen lässt. Die Sommerhitze, die Trockenheit, der Klimawandel, der Schädlingsbefall, die Globalisierung, das Wachstumsdenken, der Konsumwahn, die Oberflächlichkeit, die Schnelllebigkeit, die Abkopplung, die Unmenschlichkeit, die Ungleichheit, die Ungerechtigkeit, das Virus. Wir Menschen sind ein Teil der Natur. Das vergessen wir nur allzu oft. Sind wir nicht im Gleichgewicht, ist es Mutter Erde ebenso wenig; und umgekehrt.

Wer wollen wir sein?

In „Wer wir waren“ betrachtete der Autor Roger Willemsen kurz vor seinem Tod im Februr 2016 die Gegenwart aus der Zukunft. Aus den Manuskripten für das Buch, das niemals zu Ende geschrieben werden konnte, ist eine Rede geworden. Sie liest sich, als hätte er im Innersten geahnt, worauf wir zusteuern:

Wenn wir in den Städten auf die Straße traten, hatte der Kampf um unsere Aufmerksamkeit schon eingesetzt. Die Fassaden schrien uns an, die Nackten umgarnten uns in den Auslagen, immer gab es etwas Hingeräkeltes, Schmeichlerisches, das uns besser gefallen wollte als alles sonst auf der Welt. Alles Großaufnahme, alles äußerste Steigerungsform, und wir dazwischen, die umkämpften Abgekämpften.

Roger Willemsen, “Wer wir waren” (Verlag: Fischer)

Abgekämpft sind wir, abgekämpft von der vermeintlichen Normalität. Vom Drang, ein perfektes Leben führen zu müssen, vom Stress der Arbeitswelt, vom Druck des Konsumzwangs. Abgerackert haben wir uns, um im Außen etwas darzustellen, etwas herzeigen zu können; wir haben für die Selbstoptimierung geschuftet, bis wir uns selbst nicht mehr gespürt haben. Die Finger wundgetippt haben wir uns auf handgroßen Displays, um neue Realitäten zu schaffen, die verheißungsvoller wirkten als dieser glanzvolle Alltag mit seinen versteckten, persönlichen und im Verborgenen gehaltenen Dramen.

Um ein kleines bisschen Energie zu schöpfen für diesen niemals endenden Kreislauf aus Status, Macht, Kontrolle und Scheinidentität, um die eigene Seele zu retten vor diesem unausweichlichem Sog, sind wir wie besessen in Yogastudios gerannt, haben uns durch Serienwelten gezappt oder Fernflüge gebucht, die uns in Sehnsuchtsorte, in Paradiese, die in Wahrheit nichts als Kulissen waren, katapultierten. Oberflächliche Kosmetik, die auf unseren Gesichtern zerbröselt, wenn sie nicht wieder und wieder neu aufgetragen wird.

Die Welt hat gestöhnt

Die Welt hat unter unserer Last gestöhnt und als Lebewesen, als Teil dieser Erde, haben wir leise, ganz leise, mitgeschwächelt, um ja nicht den Anschein zu erwecken, wir seien nicht gut, stark oder wertvoll genug für die nächste Gehaltserhöhung, das überteuerte Reihenhaus mit Terrasse oder die Traumreise auf die Malediven. Wir haben verlernt, still zu sitzen, innezuhalten. Wir haben verdrängt, was uns ausmacht, wer wir sind und wer wir sein wollen. Nutzen wir die Distanz zur Rasanz des Lebens für die Annäherung an uns selbst. Für die einzig wahre Reise im Leben, die Reise zu uns selbst.

Die toten Bäume ergeben ein unwirtliches Bild. Wo einst der Wald war, ist Brache. Auch die Welt liegt brach. Endzeitstimmung. Surrealismus findet jetzt nicht mehr auf der Leinwand statt, er ist real geworden. Was bleibt? Die Stille. Das Leid. Die Einsicht. Die Besinnung. Jetzt, wo der Wald gerodet ist und die Welt den Atem anhält: Erlauben wir uns ein Eingeständnis. Jetzt, wo die einen ihre Menschlichkeit in Krankenhäusern, Altenheimen und Supermärkten unter Beweis stellen: Trauen wir uns, unserer eigenen Menschlichkeit im Inneren wieder Raum zu verleihen. Damit die Solidargesellschaft darauf vorbereitet ist, wenn die heute gefeierten „Helden des Alltags“ morgen wieder vergessen sind, aber unsere Aufmerksamkeit, unsere Dankbarkeit, unsere innere Gereiftheit brauchen.

Wenn nichts mehr geht, ist vieles möglich

Die Baumriesen sind weg. Aber am Waldboden sprießt Klee, wachsen Veilchen, Moos überzieht die trostlosen Baumstämme und verwandelt sie in leuchtende Hoffnungsträger. Die Natur sucht sich ihren Weg. Der Mensch sucht sich seinen Weg. Wenn nichts mehr geht, dann ist auf einmal vieles wieder möglich. Dann ruft der Papst auf, weltweit die Waffen ruhen zu lassen. Dann werden Straßen für Autos gesperrt, um Platz für Fußgänger zu schaffen. Dann wird Obdachlosen Essen auf die Parkzäune gehängt. Dann schrumpfen die Absatzzahlen von Smartphones.

Wenn nichts mehr geht, dann zeichnet sich ab, was wir als Weltgesellschaft, in der jeder Einzelne untrennbar mit dem anderen verbunden ist, wirklich brauchen. Zum Beispiel Frieden oder verkehrsfreie, begrünte Städte. Zum Beispiel eine Grundversorgung für alle oder Produkte, die ein Leben lang halten. Zum Beispiel Wasser, Luft und Sonne, so wie der Wald, damit langsam wieder Energie durch seine Lebensadern fließt und er eine neuere, prächtigere, stabilere und nachhaltigere Form annimmt als zuvor.

Lese-Inspiration

Der Corona-Effekt: 4 Zukunftsszenarien für Wirtschaft und Gesellschaft (www.zukunftsinsitut.de)

48 – Die Welt nach Corona (Matthias Horx, www.horx.com; www.zukunftsinsitut.de)

Virus, Viralität, Virtualität: Der Globalisierung geht die Luft aus (Peter Weibel, derStandard.at)

 

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