Tourismus in Vietnam: Segen oder Fluch?

Einheimische in Sapa_Vietnam
Einheimische in Sapa, Vietnam
Was passiert, wenn Einheimische plötzlich Teil der Tourismus-Maschinerie werden. Kurz-Reportage aus Sapa, Nord-Vietnam.

Die ganze Nacht lang ist der Zug durch schwarzes Niemandsland getuckert. Jetzt, in den frühen Morgenstunden, erkennt man langsam die Umgebung. Bananenbäume, meterhoher Bambus, schmale Wege, dazwischen kleine Hütten. Wer sich erst jetzt den Schlaf aus den Augen reibt, für den ist es wahrscheinlich schon zu spät: Am Bahnsteig warten bereits die Minibus-Fahrer und fordern zum Mitfahren ins Bergstädtchen Sapa auf.

Mindestens das Doppelte zahlen alle, die noch zu verschlafen oder zu perplex sind, um einen fairen Preis auszuhandeln. Im Bus warten bereits ein paar Einheimische. Sie werden erstmal hinausgescheucht, um Platz für die weißen Touristen zu machen – immerhin die besser zahlende Kundschaft. Erst wenn alle Europäer Platz genommen haben, dürfen sich die Einheimischen zurück in den Wagen quetschen.

Trekkingtouren zu Minderheiten-Dörfern

Sapa liegt auf 1.600 Meter Höhe im Norden Vietnams, nicht weit von der Grenze zu China. Die Region ist für die schönen Reisterrassen berühmt. Außerdem leben hier verschiedene Minderheiten-Gruppen, verteilt auf mehrere Dörfer. In jedem der vielen Hotels in Sapa kann man ein- oder mehrtägige Touren inklusive Übernachtung in den Dörfern buchen, so genannte Homestays. Begleitet werden die Trekks von lokalen Guides, die ebenfalls aus den Dörfern stammen.

Reisfelder in Sapa, Vietnam
Sapa, Vietnam, Reisterrassen, soweit das Auge reicht

„You buy from me!“

Jeder Wandergruppe schließt sich schnell ein Grüppchen einheimischer Frauen an. Die Schwarzen Hmong, die roten Dao und die weißen Thais schauen aus, als hätten sie soeben die Bühne nach einer Folklore-Aufführung verlassen: Traditionelle Tracht mit vielen Stickereien, von der Sonne gegerbtes Gesicht, Körbe aus Bambus aufgeschultert und stets ein Lächeln parat. Weil es geregnet hat, ist der Weg rutschig. Kein Problem, stets ist eine helfende Hand zur Seite, die die Touristen sicher über heikle Passagen begleitet.

Um bei der nächsten Gelegenheit gutes Geschäft zu machen. „You buy from me!“ heißt es dann, oder „Shopping, shopping“ – und wieder wird das schönste Sonntagslächeln aufgesetzt, die Goldzähne glänzen. Jetzt heißt es: resistent bleiben und immer wiederholen „no money“. Das finden die Frauen nur minder lustig. „No money, no honey“, heißt es dann. Oder „No money, you better go home“ – schallendes Gelächter. Die paar Brocken Englisch haben die Dorfbewohnerinnen mit den Jahren von den Touristen gelernt.

Bei Familien im Dorf übernachten

Die Homestays, also die Übernachtungen bei Familien im Dorf, sind ähnlich touristisch aufgezogen. Das Essen ist lecker, die Betten sauber, alles kein Problem. Die meisten Häuser sind auf größere Gruppen ausgerichtet, man merkt den Betreibern die Routine an. Und fragt sich irgendwann: Was hat der Massentourismus mit diesen Dörfern und den ethnischen Minderheiten, die sie bewohnen, angerichtet?

Eine Antwort darauf könnte der Holländer Eddie Verdriet haben. Er hat viele Jahre lang als Reiseleiter in Südostasien gearbeitet, bevor er sich vor drei Jahren im Dorf TaVan gemeinsam mit seiner vietnamesischen Frau niederließ. Dort betreibt er eine Bar und ein Ferienhaus. An den Einheimischen und deren Arbeitsweise im Tourismus lässt er kein gutes Haar.

„Die Frauen hier verdienen mit dem Verkauf von Taschen und Röcken drei bis sechsmal mehr als der durchschnittliche vietnamesische Arbeitnehmer“, erzählt er. Das sei langfristig sehr schlecht für den Tourismus. „Denn wenn es den einmal nicht mehr gibt, dann haben sie nichts – weder eine Ausbildung, noch wollen sie einer normalen, viel schlechter bezahlten Arbeit nachgehen.“

Touristen-Maschinerie als „Kleine Mafia“

Die Art und Weise wie der Tourismus hier gelebt wird, bezeichnet er sogar als „kleine Mafia“. Lokale Guides würden Familien und Freunde zusammentrommeln, sobald eine neue Tour gebucht ist. Diese begleiten die Wanderer dann so lange, bis sie – aus Mitleid oder weil sie genervt sind – doch etwas kaufen. Es gehe nur ums Geld, die Dorfbewohnerinnen seien zu Konkurrentinnen geworden. Was passiert mit den Einnahmen? „Viele kaufen Motorräder oder das neueste iPhone, oder die Männer verzocken und versaufen es, manche sind auch opiumsüchtig“, sagt Eddie.

Was wollen wir Touristen?

Die überhebliche Meinung eines europäischen Einwanderers? Oder die bittere Wahrheit? Fest steht: Natürlich hat der Tourismus der Region auch Gutes gebracht. Strom zum Beispiel oder Straßen. Früher gingen die Dorfbewohner ins Bett, sobald es finster war. Heute legen sie längere Wege mit dem Moped zurück und sitzen abends vor dem Fernseher. Hat nicht jeder das Recht auf ein bisschen Wohlstand?

Außerdem: Was wollen wir Touristen eigentlich? 100 Prozent Authentizität, die aber möglichst bequem erlebbar ist und kosten darf es auch nicht viel? Ein bisschen Abenteuer, ein paar Stunden die Exoten und ihre vermeintlich ursprüngliche Lebensweise betrachten, bevor es zurück ins gemütliche Hotel geht?

In Sapa lässt sich die Tourismus-Maschinerie jedenfalls nicht mehr aufhalten. „Man kann das jetzt nicht mehr ändern. Wir selbst haben damit angefangen, die Tourguides besser zu bezahlen – dann gibt es auch keine Nebengeschäfte mehr“, sagt der Niederländer. Das gilt aber wahrscheinlich für die wenigsten Reiseführer in der Gegend. Und stimmt nachdenklich: Inwiefern wirkt man als Reisender selbst an der Situation mit? Wie könnte ein Besuch in Sapa sozial verträglicher und für beide Seiten angenehmer verlaufen? Ein bitterer Nachgeschmack bleibt.

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