Die Sonne schiebt sich langsam empor. Im Hintergrund die markanten Spitztürme von Angkor Wat. Im Vordergrund die nach oben gestreckten Hände der Touristen, die Smartphones und Kameras in die Höhe halten. Die Besucher sind um fünf Uhr morgens aufgestanden, um Kambodschas bekannteste Tempelanlage bei Sonnenaufgang zu erleben. Sie warten auf das perfekte Motiv. Jenes, das man von Postkarten kennt: Angkor Wat, umhüllt vom sanften Blau des Himmels. Von der Morgensonne ins beste Licht gerückt. Würde jetzt noch ein Mönch in orangefarbener Robe vorbeilaufen, wäre das Foto vollkommen.
Angkor Wat und die Menschentrauben
„In der Hochsaison sind noch viel mehr Touristen hier“, sagt Daral Tong, unser Tuk Tuk Fahrer für den Tag. Für ihn sind die Menschentrauben vor Angkor Wat nichts Neues. Der junge Vater lebt in Siem Reap und kutschiert in seinem Mopedtaxi regelmäßig Gäste zu den Tempeln.
Siem Reap. Die Stadt ist in den vergangenen Jahren zur Touristenhochburg geworden – Angkor Wat sei Dank. Jährlich werden Millionen von Eintrittskarten für das Tempelgelände verkauft. Gut für’s Geschäft. Und eine Job-Möglichkeit für Daral und die vielen anderen Tuk Tuk Fahrer.
Touristen beschädigen Angkor Wat
Aber schlecht für die zum Teil ohnehin schon halb zerfallenen Tempelanlagen, die zwischen dem 9. und 15. Jahrhundert erbaut wurden. Zu manchen Tageszeiten werden die berühmtesten Wats regelrecht gestürmt, das hinterlässt Spuren. Die Ornamente im Tempelinneren von Angkor Wat sind abgegriffen, glatt gestreift von tausenden Touristenhänden. Mittlerweile hat die Verwaltung eine Absperrung abgesteckt und Schilder aufgestellt: „Do not touch.“
Keine Frage, Angkor Wat ist beeindruckend. Alle wollen den Tempel sehen, der etwas Mystisches, ja fast Sagenumwobenes ausstrahlt. Viele kommen sogar nur deswegen nach Kambodscha. Aber manchmal sind die großen Sehenswürdigkeiten gar nicht das, was Reisende wirklich fasziniert. Oder ist es sogar meistens so?
Einblick in den kambodschanischen Alltag
Oft sind es die simplen Dinge des Lebens, die das Reiseherz mit Glückseligkeit erfüllen. Zum Beispiel hautnah zu erleben, wie der Alltag seinen gewohnten Lauf nimmt. In die kambodschanische Lebenswelt abseits der touristischen Bühne kann man nur einen Steinwurf von den Tempeln von Angkor entfernt eintauchen. Sie steht im krassen Gegensatz zu der fulminanten Tempelbaukunst und den unzähligen Luxus- und Boutiquehotels.
Siem Reap hat eine glänzende Fassade
Denn die Provinz Siem Reap zählt zu den ärmsten des Landes. Es fehlt an Bildung, Arbeit und ausreichender Gesundheitsversorgung. Viele Bewohner haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Ein Drittel der Einheimischen lebt unterhalb der Armutsgrenze von einem US-Dollar pro Tag. Und das Geld der Touristenmassen fließt in teure Hotels und Restaurants, die oft Ausländern gehören.
Tuk Tuk Touren durch Angkor, Siem Reap
www.angkortemples.wordpress.com
Durch die rosarote Touristenbrille betrachtet sieht man nur die glänzende Fassade von Siem Reap. Es gibt Fünf-Sterne-Hotels, Sauf-Hostels, schicke Cafés mit fluffigen Pancakes, jede Menge Europäer auf Selbstfindungstrip, Yogakurse. Die Schattenseiten: Armut, Kinderprostitution, Massagen mit „Happy Ending“, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse. Es gibt unzählige Hilfsorganisationen, aber nicht alle davon haben Gutes im Sinn.
Die Bevölkerung kann man als Reisender unterstützen, indem man lokale Transportmittel wie Tuk Tuks benutzt, Snacks von der Straße kauft und ihre Lokale besucht. Eine gute Möglichkeit, um gleichzeitig in Kontakt mit Einheimischen und ihrer Lebenswelt zu kommen.
Touristenmagnet Angkor ist gleichzeitig Lebensraum
Dafür muss man nicht einmal das Areal von Angkor verlassen. Der Angkor Archaeological Park, UNESCO-Weltkulturerbe, nimmt eine Fläche von 400 Quadratkilometern ein. Und ist damit flächenmäßig halb so groß wie Berlin.
Die Tempelanlagen prägen zwar weite Teile der Landschaft. Darum herum spielt sich aber ganz normaler kambodschanischer Alltag ab. Es gibt Dörfer, Schulen, Wälder, Reisfelder, Flüsse mit badenden Kindern. Einheimische zahlen keinen Eintritt – warum denn auch? Der Touristenmagnet ist ihr unmittelbarer Lebensraum.
Neben den berühmten Tempeln wie Angkor Wat, Angkor Thom oder Bayon gibt es unzählige kleinere, weniger bekannte Wats. Manche davon liegen versteckt im Wald. Um den Preah Khan Tempel führt ein schmaler Weg durch ein Meer von Bäumen.
„Wenn ich frei habe, komme ich oft mit dem Rad hierher“, erzählt Daral, während er seine Gäste durchs Dickicht führt. Es ist spätnachmittags und die Sonne zaubert einen goldenen Schimmer auf die Mauern, die sich nach dem kurzen Marsch auftun. Später zeigt der Fahrer seinen Gästen einen weiteren, weniger bekannten Tempel: Ta Som.
Die Weiterfahrt mit dem Tuk Tuk führt vorbei an Büffeln, die in blitzgrünen Reisfeldern grasen. Und an Kindern, die ihr Fahrrad entlang der staubigen Piste treten. Dann biegt Daral ab und lenkt das Tuk Tuk langsam durch ein Dorf. Die Häuser sind aus Holz gebaut. Davor ist meterhoch getrocknetes Gras aufgestapelt – Futter für Rinder und Büffel.
Vor manchen Häusern sind Plastikplanen ausgebreitet, auf denen Reiskörner zum Trocknen liegen. Vor einem der auf Stelzen gebauten Gebäude brutzelt Fleisch auf dem Grill. „Ein Hunderestaurant!“, ruft Daral seinen Gästen vom Moped aus zu.
Palmfrucht: harte Schale, weicher Kern
Wieder zurück auf der asphaltierten Hauptstraße sitzt eine Familie am Straßenrand, umgeben von einem Haufen grün-brauner runder Früchte. Die Männer hacken die Schalen auf. Die Frauen sind für die Kleinarbeit und für’s Verkaufen zuständig. „Das sind Palmfrüchte. Wollt ihr hier stehenbleiben?“, fragt Daral.
Er steigt vom Moped, redet mit der Verkäuferin, verhandelt einen Preis und reicht ein paar milchig-weiße, glibberige daumengroße Fruchtkerne herüber. Erfrischend, leicht süßlich, gewöhnungsbedürftig. In der kambodschanischen Küche werden die Kerne entweder gekocht oder als Dessert in Sirup eingelegt.
Lokale Spezialität: Ameiseneier, Käfer und Maden
Einige Hundert Meter weiter hockt eine faltige Frau auf der vertrockneten Wiese. Ihr Arbeitswerkzeug: Ein paar bunte Plastiktüten und ein Korb. Wieder klettern wir aus dem Tuk Tuk. Daral wechselt ein paar Worte mit der Frau, und die Touristen dürfen sich an einem weiteren Snack probieren, diesmal kostenlos: Ameiseneier.



Genau genommen handelt es sich nicht um die Eier, sondern die Larven von Ameisen. Sie sind weiß und haben Form, Größe und Konsistenz von gekochtem Reis. Was in Kambodscha als Gaumenfreude gilt, schmeckt für den westlichen Gaumen nach – nicht wirklich viel.
Eine andere lokale Spezialität, geröstete Käfer und weiße Maden, bietet die Frau am nächstgelegenen Stand feil. Daral weiß schon, dass die meisten Touristen vor solchen „Köstlichkeiten“ zurückschrecken. „Ihr könnt das ruhig probieren“, ermutigt er.
Bambusrohr, gefüllt mit Reis und Bohnen
Nicht für alle Snacks in Kambodscha braucht man eine hohe Schmerzgrenze. Für 3.000 kambodschanische Riel, umgerechnet knapp 70 Euro-Cent, wird am Straßenrand auch „Krolan“, gefülltes Bambusrohr, angeboten.
Dafür füllen einheimische Frauen ellenbogenlange Stücke des innen hohlen Bambusbaumes mit Klebereis, Kokosraspeln und Bohnen. Die Rohre werden über Holzkohle gegrillt. Mit einem breiten Lächeln reicht die Verkäuferin das Bambusrohr ins Tuk Tuk. Und holt es gleich wieder zu sich zurück, um beim Abziehen der Schale zu helfen.
Sonnenuntergangs-Tour in Angkor: ein Massenspektakel
Ein Stück weiter drüben nimmt das allabendliche Touristenspektakel seinen Lauf: Hunderte Reisende pilgern zum Wat Phnom Bakheng hinauf, um einen Blick auf den Sonnenuntergang zu erhaschen. Elefanten, Tuk Tuks, Autos, alles staut sich.
Jetzt schnell ein ruhiges Plätzchen suchen, am Klebereis naschen, im Fluss badenden Kindern winken. Fühlt sich an, als wäre das die eigentliche Attraktion.
Der Blick abseits von Angkor Wat lohnt auf jeden Fall. Auch wenn die Tempelstadt beeindruckend ist lohnt der Blick auch abseits. Vor allem in Südostasien kann man wirklich an jeder Ecke etwas entdecken. Und ja – der kritische Blick ist auch angebracht. Ich war zweimal in Siem Reap, innerhalb von zwei Jahren hat sich die Stadt sehr verändert. Leider hält immer mehr vom Touri-Einheitsbrei Einzug, auch die Prostitution ist mir unangenehm aufgefallen. Bestimmt keine gute Entwicklung für die Region.
Ja, das stimmt. Die Tempelanlagen sind auf jeden Fall sehenswert. Aber leider für viele Touristen das einzige, was sie bei ihrem meist sehr kurzem Aufenthalt in Siem Reap wahrnehmen. Und ja, es ist wirklich interessant, wenn man nach Jahren in Städte oder Regionen zurückkehrt. Dann sieht man erst, was sich alles verändert hat. Und meistens leider nicht zum Positiven.