Flüchtlingscamp in der Arktis

Kirkenes in Norwegen
Hoch oben im arktischen Norwegen würde man eigentlich das Ende der Welt vermuten. Dabei ist das Städtchen Kirkenes Anziehungspunkt für Menschen aus aller Welt – seit Neuestem auch für Flüchtlinge.

Hoch oben im arktischen Norwegen würde man eigentlich das Ende der Welt vermuten. Dabei ist das Städtchen Kirkenes Anziehungspunkt für Menschen aus aller Welt – seit Neuestem auch für Flüchtlinge.

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Kirkenes. Eine Kleinstadt mitten im nordnorwegischen Niemandsland. 400 Kilometer nördlich des Polarkreises, Teil der arktischen Region, 3.500 Einwohner. Endpunkt für die berühmten Hurtigruten-Schiffsreisen und die Nord-Süd-Verbindung Europastraße 6. Weiter nordwestlich geht’s nicht, denn da beginnt schon Russland.

In Kirkenes, Minen- und mittlerweile Tourismusstadt, sollen bis zu 15 Prozent Ausländer leben, allen voran Russen. Vladimir, 24, ist einer von ihnen. Hier oben ist er seiner Heimat ganz nah: Nicht einmal zehn Kilometer sind es bis an die norwegisch-russische Grenze, der nördlichste Übergang in den Schengenraum. Sie wird streng bewacht. Mal eben für ein paar Stunden nach Russland zu fahren, um billig Vodka und Zigaretten zu kaufen, das hat es lange nicht gespielt. Erst seit ein paar Jahren dürfen sich Russen und Norweger im Grenzgebiet in einem Umkreis von 30 Kilometern visafrei bewegen. Die Straßenschilder in Kirkenes sind teilweise auf Norwegisch und Russisch beschriftet.

Multikulti im hohen Norden

Menschen aus insgesamt 40 Ländern der Welt sollen in Kirkenes leben, sagt man uns beim Besuch vor einigen Jahren. „Für russische Frauen gibt es nichts Größeres im Leben, als hier einen Norweger zu heiraten“, erzählt Ulf, der mit Touristen Schneemobil-Touren über die gefrorene Barentsee macht. Die Begründung: Die Lebenserwartung russischer Männer sei gering, ohnehin würden die Norweger ein Vielfaches mehr verdienen. Auch Menschen aus gänzlich gegensätzlichen Klimazonen wie den Philippinen zieht es nach Kirkenes oder in andere Regionen Norwegens – der Arbeit wegen. Viele davon überweisen laufend Geld an ihre Familien zu Hause. Die Fischer in Kirkenes freuts, so hört man – eine der wenigen Möglichkeiten, um in dieser abgeschiedenen Region das Glück der Liebe zu finden.

Schlittenhunde in Kirkenes
Schlittenhundefahrt am gefühlten Ende der Welt

Zurück zu Vladimir: Seine Eltern kamen vor 15 Jahren hierher, heute kutschiert er Urlauber mit Hundeschlitten durch eine Landschaft aus Schnee und Eis. Die Sonne scheint, die Temperaturen liegen bei nur wenigen Grad unter Null – der warme Golfstrom sorgt für gemäßigtes Klima. Das Gejaule ist ohrenbetäubend. Die Hunde sind Mischlinge aus Huskys, Grönlandhunden und anderen Rassen, sie können es kaum erwarten, loszulegen. „Die vorderen Hunde sind die diszipliniertesten, die hinteren die kräftigsten, weil das meiste Gewicht des Schlittens auf ihnen lastet“, erklärt Vladimir, der Kopf, Stirn, und Ohren in eine Fellmütze gehüllt hat. Schweigend geht es durch die winterliche Landschaft, nur das Schnaufen der Hunde und die Kufen der Schlitten auf dem Schnee sind zu hören. Als Belohnung wirft Vladimir den Hunden Lachsstücke zu, später werden sie jede Menge rohes Fleisch bekommen.

Syrische Flüchtlinge in Kirkenes

Das gefühlte Ende der Welt ist monoton und weiß. Auch kalt. Im Winter sinken die Temperaturen bis weit in die Minusgrade. Für die meisten Zugereisten ist dieser skurrile Ort vielleicht schon so etwas wie Heimat geworden. Für andere ist er seit einiger Zeit warmer Hoffnungsschimmer in einer kalten Landschaft aus Schnee und Eis. Nämlich für syrische, afghanische und irakische Flüchtlinge. Im Jahr 2015 haben laut Medienberichten rund 5.000 von ihnen die so genannte Polar-Route über Russland nach Norwegen gewählt, um von hier aus in EU-Länder wie Schweden oder Finnland zu kommen. Skurrile Bilder gingen um die Welt. Etwa von Geflüchteten, die im Schnee und bei eisigen Temperaturen per Fahrrad die Grenze überquerten. Russland erlaubt keinen Grenzübertritt zu Fuß.

Demonstration an der norwegisch-russischen Grenze: "Flüchtlinge willkommen in der Arktis"
Demonstration im Jänner 2016 der Plattform “Flüchtlinge willkommen in der Arktis” und Einheimischen an der Grenze zwischen Norwegen und Russland.

Mitte Jänner 2016 begann Norwegen dann mit der von Menschenrechtsorganisationen kritisierten Taktik, Flüchtlinge nach Russland zurückzuschicken. Die Facebook-Plattform „Flüchtlinge willkommen in der Arktis“ demonstrierte dagegen. „Es ging alles sehr schnell, aber zum Glück reagierten die Einheimischen rasch und die Deportation über die Grenze wurde geschlossen“, erklärt der Aktivist Ask Ebeltoft aus Trondheim per E-Mail. „Menschen bei minus 30 Grad Celsius in das für sie unsichere Russland zu schicken, ist keine Option.“

Flüchtlingscamp in der Nähe von Kirkenes, Norwegen
Stockbetten im Flüchtlingslager nahe Kirkenes: Eigentlich sollten die Menschen so kurz wie möglich bleiben.

Seit 21. Jänner sträubt sich Russland ohnehin, Menschen ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung zurückzunehmen. Das Problem an der Sache ist, dass Norwegen den Asylantrag vieler dieser Menschen bereits abgelehnt hat. Sie können also weder bleiben, noch zurück nach Russland. Für sie heißt das: Warten, wie es weitergeht. Bei arktischen Außentemperaturen und nur wenigen Stunden Sonnenlicht am Tag. Die britische Tageszeitung „The Guardian“ hat Anfang Februar 2016 eine eindrucksvolle Foto-Reportage über eines der nördlichsten Flüchtlingsheime der Welt veröffentlicht, in dem rund 260 Menschen untergebracht sind. Es liegt in der Nähe von Kirkenes.

Flüchtlingscamp nahe Kirkenes
Hand eines Mädchens aus Syrien, fotografiert von der Plattform “Flüchtlinge willkommen in der Arktis”.

„Gerade für Familien mit Kindern bedeutet diese Situation Stress pur, es gibt nichts zu tun, keine gute gesundheitliche Versorgung und keine Information darüber, wie es weitergeht“, berichtet Ask Ebeltoft. Nach Kriktik von NGOs und Medien wurde vor wenigen Tagen beschlossen: 60 der Flüchtlinge werden bald vom Erstaufnahme-Camp in Kirkenes in Flüchtlingsheime weiter südlich in Norwegen verteilt. “Was weiter mit ihnen passiert, wissen wir aber noch nicht”, sagt Ask Ebeltoft. Die Situation bleibe schwierig, es mangle nach wie vor an Information. “Es sind viele negative Dinge passiert, aber wir werden uns weiterhin für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen.”

Mittlerweile kommen so gut wie keine Flüchtlinge mehr über die norwegisch-russische Grenze. Die Route hat sich geändert – sie versuchen es jetzt über Finnland.

Anmerkung:
Unser Besuch in Kirkenes liegt bereits mehrere Jahre zurück, Fakten und Zahlen zur Flüchtlingskrise wurden von Österreich aus recherchiert. Die Bilder stammen zum Teil von uns selbst, zum Teil von der Plattform “Flüchtlinge willkommen in der Arktis”.

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